Was anders zu sein scheint als in anderen Teilen Zentraleuropas, ist, dass man die Anwesenheit dieser Geschichte in Form von architektonischen Ruinen aus all diesen Perioden erfahren kann, bis zur und einschließlich der Gegenwart, ebenso wie man Beweise dafür in der Konstruktion und Rekonstruktion bulgarischer Identität in ihren Kontinuitätskrümmungen findet: Unabhängigkeit, Kommunismus und Kapitalismus, alles innerhalb nur etwas mehr als einem Jahrhundert. Verfallende Häuser aus der Periode der Nationalen Wiedergeburt, zusammenbrechende Sozialeinrichtungen, leerstehende Fabriken und verlassene halbfertige Projekte aus der kommunistischen Ära zusammen mit unrentablen Spekulationsblasen. Das ist das erste Mal, dass ich die Möglichkeit hatte ein Land zu erleben, wenn auch nur oberflächlich, das eben dabei ist eine moderne Identität zu konstruieren und zur selben Zeit versucht mit seiner unmittelbaren Vergangenheit umzugehen, in der eine, für andere Zwecke gedachte, diametral und maßgeschneiderte Geschichtsversion propagiert worden war.

Und darüber hinaus gibt es geschäftliche Grenzen, eingeführt von neuen ökonomischen Strukturen in der Ausdehnung des „EVN-Landes“. Es ist auch seltsam, wie schnell L. und ich uns daran gewöhnt haben, das Land so zu betrachten: Stromkabel, Strommasten, Stromzähler (oft außen an den Häusern), kühne, aber abenteuerliche Lösungen für Haushaltselektrizität und  kaligrafische Schlingen und Kurven von Oberleitungen, ein Festival improvisierter Kabel.

Während wir darüber nachdenken, erreichen wir die mittelalterliche Festung von Asenova Krepost, hoch oben auf einer felsigen Klippe. Ich klettere in der brütenden Hitze hinauf, fühle mich ein bisschen mad doggish und betrachte die Kirche, die buchstäblich auf einem Vorsprung thront, der die Straße unten überragt. Ich habe einen sehr guten Ausblick auf das Tal bis nach Asenovgrad und bin nicht mehr neidisch auf die anderen, die sich unten im Schatten ausruhen.

Wir fahren weiter bis zum Dorf Bachkovo und besuchen dort das Kloster. Der Weg hinauf ist voll von Souvenirständen. Im Innenhof gibt es Wandgemälde und ein Schild, das Bildermachen jeglicher Art verbietet. Ich halte mich an die „Buchstaben des Gesetzes“ und fotografiere ein Gemälde unter den Eingangsbögen einer kleinen Kirche, etwas weiter weg von der „Hauptattraktion“.

Die Straße schlängelt sich jetzt stetig aufwärts durch ein bewaldetes Tal, einen Schatten über den Fluss Chepelarska werfend. An Stellen, wo das Tal breiter wird und der Fluss mehr Bewegungsfreiheit hat, findet man eine Menge Treibgut: abgebrochene, baumgroße Äste sowie von Menschen hergestellte Objekte, Spuren von erheblichen Überschwemmungen in der nahen Vergangenheit. Mit Bauholz beladene Laster fahren zu Sägewerken, die die häufigste und anscheinend fast einzige Industrie hier sind.

Etwas später kommen wir zu einer Kreuzung. Es kreuzt hier nicht nur die Straße mit einer Nebenstraße, es bedeutet auch, dass wir dem Tal des Erkyupriya-Flusses folgen, einem Nebenfluss des Chepelarska. Das führt uns zu den so genannten „wundervollen Brücken“, unberührte Felsen, die den Fluss überdachen. Es ist etwas kühler hier oben. L. und ich gehen auf einer kleinen, trockenen, von Blumen gesäumten Wiese spazieren, die von einem steil ansteigenden Wald umschlossen ist.