Sonntag, 27. Mai, Velingrad

Nach dem Frühstück treffen wir B., reden über die Pläne für den Tag und gehen dann zum Markt. Auf dem Weg bemerke ich einen alten Lada, der so mit Toilettenpapier vollgestopft ist, dass es kaum Platz für den Fahrer gibt. Unglücklicherweise fährt er so schnell vorbei, dass ich nicht dazu komme ein Foto zu machen. Vorbei an einigen abseits gelegenen Ständen, bemerken wir eine Frau, die ein Kopftuch und einen blauen Arbeitsmantel trägt. Sie steht unter einem handgeschriebenen Schild. Wir bitten B. es zu übersetzen. Es sei ein Zitat von jemandem, der ihr nicht bekannt sei, namens Mustapha Sharkov. „Meine Festung war immer die bulgarische Nation, die bulgarischen Menschen, meine bulgarischen Menschen.“ Damit sind wir wirklich in einem neuen diskursiven Territorium angekommen.

Velingrad ist eine der Städte mit eindeutig muslimischer Präsenz. Auch Orpheus soll aus dieser Gegend kommen. Diese Präsenz und die Möglichkeit, durch B.s Vermittlung mit einigen Roma-Familien Kontakt aufzunehmen, hat uns hierher geführt. L. möchte die Frau fotografieren und B. fragt um Erlaubnis. Sie beginnen eine Unterhaltung und es wird vorgeschlagen, dass B. etwas Butter kauft.

Dann wird das Foto gemacht, aber nicht bevor die Frau ihr Kopftuch zurechtrückt. Sie erklärt uns, dass diese kleine Änderung wesentlich ist. Bevor sie mit uns sprach, bedeckten die Rosen und Spitzen einen Teil ihres Kinns. Das bedeutet, dass man die eigene Privatsphäre in der Öffentlichkeit aufrechterhält. Sie möchte ihr Gesicht für das Foto „öffnen". Danach fängt B. die Unterhaltung wieder an und wir werden eingeladen, sie und ihre Familie am nächsten Tag in einem benachbarten Dorf zu besuchen. Alles, was wir wissen müssen, um sie dort zu finden, ist ihr Familienname Kapka, was „Tautropfen“ bedeutet, sagt sie. B. erzählt uns, dass Wassertropfen in Bulgarien eine Metapher für Perfektion ist. Unser Wissen reicht gerade eben, um uns darüber bewusst zu sein, dass Namen in diesem Kontext eine wichtige Bedeutung haben. Mustapha Sharkov wird wahrscheinlich nicht mit diesem (bulgarischen) Nachnamen geboren worden sein, sondern mit einem anderen, einem muslimischen.

Wir haben alles ausgemacht und spazieren dann weiter durch den Markt. Es ist ein heißer Tag, aber eine leichte Brise weht, es sind färbige Schatten unter den Markisen der Stände zu sehen. Wir kommen an einem jungen Zigeuner vorbei und B. macht einen schnellen Schnappschuss. Er grinst, holt sein Handy hervor und macht ein Foto von uns. Er betrachtet das Resultat und sagt etwas. B. übersetzt: „Es hat nicht richtig geklappt, ihr seid überbelichtet - zu weiß für meine Kamera.“
Beim Überqueren der Straße denke ich darüber nach, dass hier das Wort Zigeuner/in von den Meisten, auf die es zutrifft, nicht - wie es in Österreich der Fall ist - als abwertende Bezeichnung gesehen wird. In England und Schottland werden ähnlich verwandte Gruppen als Travellers, Zigeuner/innen, Roma, Roma Travellers und so weiter bezeichnet. Benennen ist eine Sache von Macht und Selbstbestimmung, und hier in Bulgarien hat das Benennen eine wichtige soziopolitische Geschichte.