Montag, 28. Mai, Velingrad

Unserem Hotel gegenüber gibt es eine offene Fläche. Ein Teil davon ist das städtische Freiluft-Schwimmbad. Heute früh, vor dem Frühstück, standen wir auf dem Balkon und beobachteten Arbeiter, die das Becken kehrten, während andere vermutlich Winterschäden mit Zement ausbesserten. Ich vermute, dass das Bad am ersten Juni für die neue Saison wiedereröffnet werden soll, es ist auf jeden Fall jetzt schon heiß genug.

L. fühlt sich heute nicht besonders gut und beschließt nach dem Frühstück im Hotel zu bleiben, um noch ein wenig zu schlafen. B. und ich verlassen Velingrad und fahren entlang des Chepinska-Flusstales nach Draginovo, um den gestern vereinbarten Besuch zu machen. Auf dem Weg sehen wir viele Menschen, die am Talgrund auf den Feldern arbeiten, hauptsächlich Frauen, fast alle in dieselben blauen Arbeitsmäntel gekleidet, wie wir es schon auf dem Marktplatz gesehen haben. Wir halten nur zwei Mal an, um nach dem Weg zu fragen, bevor wir beim Haus unserer Gastgeberin ankommen. Das Dorf liegt an einem Berghang, die asphaltierte Straße endet hier, nachdem sie eine Brücke überquert hat, fast ohne ins Dorf zu führen. Auf der linken Seite, ein kleines Stück weiter, steht die örtliche Moschee. Die Dorfstraßen folgen entweder den Konturen der bewaldeten Hügellandschaft wie Terrassen oder führen steil bergauf, ein Gefühl wie in einem kleinen ländlichen San Francisco. Fahren ist abenteuerlich, besonders wenn man die steilen Straßen bergauf fährt. Jede einzelne sieht aus wie ein Flussbett und ist es wahrscheinlich auch - bulgarische Wadis, die auf den nächsten Regenguss warten. Wir finden das Haus und parken. Es ist das erste Mal, dass ich in einem Pomak/innen-Dorf (bulgarisch-muslimisches Dorf) bin.

Vor dem Haus ist ein kleines Lebensmittelgeschäft und nebenan eine Garage, die man in ein Zwei-Tische-Café, komplett mit Fernsehapparat, umfunktioniert hat. M., der Sohn des Hauses, nimmt uns dort gastfreundlich in Empfang, während die Nachricht über unsere Ankunft zu F. gebracht wird, hinaus auf das Feld, wo sie arbeitet. Die Schwiegertochter stellt sich uns vor.

M., der Sohn, erzählt, dass er als Elektriker arbeitet, aber da die wirtschaftliche Situation nicht sehr gut ist, sind Jobs rar, die Preise steigen ständig, nicht aber die Gehälter oder Pensionen, außer in einigen wenigen Berufen. Wir unterhalten uns über etwas, worüber ich schon gelesen habe: die erzwungene und quasi-erzwungene Politik der Bulgarisierung von Familiennamen. M. sagt, dass es seit dem Regierungswechsel möglich geworden ist, Namen zurück zu ändern, dass er aber daran überhaupt nicht interessiert ist. Vielleicht, denke ich, ist es einer dieser Fälle, in denen das Politische persönlich wird und es dafür, durch die Freiheit etwas tun zu können, keine Notwendigkeit mehr gibt. Seine Mutter könnte uns mehr über ihre Erfahrungen damit erzählen. Nachricht kommt vom Feld zurück: es wäre das Beste wir kämen am Nachmittag mit B.s Familie wieder, ihrem Vater, Mutter und Sohn. Dieser könnte dann mit seinen Kindern spielen, meint M., und er würde uns seine Hochzeitsvideos zeigen…

Von allen Minderheiten in Bulgarien sind möglicherweise die Pomak/innen in Bezug auf ihren Status innerhalb der bulgarischen Nation am umstrittensten, denn sie wurden als die kritische Gruppe bei der Neudefinierung der bulgarischen Identität nach der Unabhängigkeit gesehen. Es scheint, als hätten sie als bulgarisch sprechende Muslim/innen einen Fuß in beiden Lagern: als ethnische Bulgar/innen wird auf sie Anspruch erhoben als selbstverständlicher Teil der bulgarischen Nation, während sie als Muslim/innen auch eine starke Bindung zu den Bulgar/innen türkischer Ethnizität haben („mit dem türkischen Milieu“, wie Todorova schreibt). Ihre Geschichte der letzten 150 Jahre ist eine Miniaturdarstellung der Mechanismen zur Konstruktion einer Nation.

Während des Russisch-Türkischen Krieges, der zu Bulgariens Unabhängigkeit führte (Vertrag von Berlin 1878), unterstützten ethnische Türk/innen und einige andere Muslim/innen die Tätigkeiten des Osmanischen Reiches und versuchten damit die Unabhängigkeit zu verhindern.