Die Fenster sind eingeschlagen, die Räume ohne Möbelstücke. Aus den ebenerdig gelegenen Küchen neben dem Speisesaal ist die gesamte Einrichtung verschwunden, Kabel sind aus der Wand gerissen, wahrscheinlich wegen des Kupfers. In den oberen Stockwerken haben die gleichen, ziemlich kleinen, um einen Mittelgang angelegten Zimmer ihre Türen verloren und lassen gemeinsame Geheimnisse, geflüsterte Ängste und jugendliche Verschwörungen im Wind, der durch die umliegenden Felder hereinbläst, verwehen. Auf den Wänden Graffiti, aber ohne Leidenschaft, leblose Liebesproklamationen und halbherzige Flüche von durchgestrichenen Namen. Die Fantasie ist mit den letzten Bewohner/innen entschwunden. M. erzählt, dass es viele solche Gebäude in Bulgarien gibt und dass einige von ihnen an dubiose Bekleidungsunternehmen vermietet worden waren, die ein oder zwei Jahre produzierten, bevor sie verschwanden. Viele von ihnen hinterließen unbezahlte Arbeiter/innen (meist Frauen) und Steuerschulden. L. erzählt, dass von Mitte bis Ende der 90er-Jahre Unternehmen, die für österreichische und britische Ketten Kleidung herstellten, ins Visier der Clean-Clothes-Kampagne gerieten, einer Allianz von Gewerkschaften und NGOs, die ihre Arbeit der Verbesserung von Gehältern und Konditionen im Bekleidungshandel widmet. Vor relativ kurzer Zeit, im Jahr 2005, gab es eine Ausstellung in Sofia und Haskovo, die zeigte, dass Frauen für das Nähen von einem Paar Blue Jeans ungefähr 2 Leva (€ 1) verdienten.

Die Schule zwei Gebäude weiter ist anscheinend noch immer in Betrieb, obwohl es beunruhigend still ist, wie in allen Schulen in den Sommerferien. Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eröffnete die Stadt eine der ersten Mädchenschulen Bulgariens. Wie andere kleine Städte in dieser Region war auch Bratzigovo Schauplatz eines Massakers der Türken an den Führern des verfrühten und fehlgeschlagenen Aprilaufstandes des Jahres 1876, der die Erlangung der Unabhängigkeit zwei Jahre später vorwegnahm.

Die Fahrt zurück nach Plovdiv macht klar, dass die historischen ethnischen Teilungen zum Teil von Physiogeographie beeinflusst worden waren. Die Täler, wie das des Flusses Maritsa, waren fruchtbar und leicht zu bereisen. Das bedeutete, dass der Einfluss der Osmanen hier am stärksten war, während die bulgarische Kultur sich in den Dörfern und Klöstern der Berge erhalten hatte. Seit dem Rückzug der Osmanen ist die Situation teilweise umgekehrt, die türkisch sprechende Minorität ist hauptsächlich im südlichen Teil des Landes zu finden, speziell im Rhodopen-Gebirge.