Der Meyer-Tourismusführer von 1902 könnte sich auf diese Gegend hier im Rhodopengebirge beziehen: „… berüchtigt für ihre Gehorsamsverweigerung, leben hier die wilden Stämme der Pomaken und auch Räuberbanden, die diese Gegend terrorisieren (Miss Stone).“ Der Name in den Klammern hat mich neugierig gemacht. Wie sich herausstellt war Miss Ellen Stone, als sie berühmt wurde, eine alleinstehende Evangelistin mittleren Alters, die von der American Board of Commissioners for Foreign Missions beauftragt wurde, das Wort Gottes an die Bulgar/innen weiterzugeben (sie waren bereits Christ/innen, allerdings orthodoxe). Der Gesellschaft war es nicht gelungen Muslim/innen zu konvertieren (die nach osmanischem Recht zum Tode verurteilt werden konnten, wenn sie ihren Glauben änderten). Sie verbrachte einige Jahre etwas südlich von Sofia und wurde dann nach Plovdiv (Philippopolis) versetzt, wo sie als Leiterin der „Bibeldamen“ 15 Jahre lang tätig war.

Im Frühling des Jahres 1901 war sie für die Bergregion, durch die wir jetzt reisen, sowie für Mazedonien verantwortlich. Genau hier überschneiden sich religiöse Politik und nationalistische Kreuzzüge.

Mazedonien war (ist) umstrittener Boden. Den Namen teilen sich Griechenland und die gegenwärtige mazedonische Republik. Er bezieht sich auch auf Pirin-Mazedonien, jetzt ein Teil Bulgariens. In jener Zeit war Mazedonien Teil der osmanischen Besitztümer und nur wenige Jahre zuvor entstanden einige mazedonische revolutionäre Gruppen wie die MRO (Mazedonische Revolutionäre Organisation) und die SMARO (Geheime Mazedonisch-Adrianopolische Revolutionäre Organisation), die später zur IMRO (Internationale Revolutionäre Organisation) wurde. Das Hauptziel dieser Organisationen war die Unabhängigkeit Mazedoniens vom Osmanischen Reich. Man hoffte, die osmanischen Herrscher würden auf die Attacken, Attentate und Überfälle mit Repressalien antworten, was eine oder mehrere Großmächte als Motivation zu intervenieren dienen könnte. Dafür benötigten sie Geld. Miss Stone war in dieser Gegend zu einem Treffen mit ihren „Bibeldamen“ und den „wenigen“ Konvertit/innen unterwegs. Da sie von einer wohlhabenden amerikanischen Organisation bezahlt, aber nicht besonders gut geschützt wurde, war sie eine zu große Versuchung. Im August 1901 reiste sie zu einem Treffen von Plovdiv nach Bansko, am 3. September verließ sie die Stadt mit einer kleinen Gruppe und wurde zusammen mit einer gewissen Frau Tslika entführt. Diese brachte während der Gefangenschaft, die bis Ende Februar des folgenden Jahres dauerte, ein kleines Mädchen zur Welt. Die Entführer überquerten immer wieder die bulgarisch-osmanische Grenze, um der Gefangennahme zu entgehen, was im besten Fall ermüdend und im Winter lebensgefährlich war. Das Lösegeld von $ 500 000 nach heutigem Kurs wurde mit öffentlichen Spendengeldern aus den Vereinigten Staaten bezahlt, obwohl es nur die Hälfte des Geforderten war.

Am späten Nachmittag besuchen wir ein altes Kurbad mit Mineralwasserquelle und Park mit Ruderbooten am Rande der Stadt. Es ist jetzt vollkommen ausgestorben.