Was noch interessanter ist als die Tatsache, dass die rückwirkend zustande gekommenen Aussagen von Nationalstaaten vorgebracht wurden – dieselben Mechanismen, die Österreich verwendete, um Mozart für sich zu beanspruchen —, ist, dass die zur Herstellung einer nationalen Identitätsfigur konstruierten Mechanismen (Orpheus als Thrakier) auch verwendet werden, um bestimmte Gruppen davon auszuschließen, um aus Pomak/innen, Roma, Türk/innen usw. die „Anderen“ zu konstruieren.

Wir sind jetzt im südöstlichen Teil Bulgariens und bewegen uns ungefähr in Richtung Türkei. Es ist ein Gebiet mit einigen muslimisch-christlich gemischten Dörfern (zum Beispiel Shiroko Laka) sowie einigen vorwiegend muslimischen. Uns wurde gesagt, dass manche der muslimischen Friedhöfe bewacht werden. Unser Nachfragen ruft einige interessante Antworten (denen man nachgehen sollte) hervor und einige unwahrscheinliche, unter ihnen: muslimische Skinheads beschädigten die Grabsteine und gäben christlichen Bulgar/innen die Schuld…

Für mich sind die spielzeugähnlichen, heimwerkerartigen Erscheinungen der Mini-Minarette an einigen der Dorfmoscheen wegen ihrer Einfachheit sehr beeindruckend und erinnern an die religiöse Intimität einiger frühchristlicher Kapellen, einer Grass-roots-Beziehung zur Religion.

Die Straße zur Orpheushöhle wirkt an manchen Stellen so, als hätte sie sich über Jahre hinweg organisch durch den Felsen gefressen, wie der kleine, rege Fluss, dem sie folgt. Die Höhle selbst ist feucht, sehr kühl und künstlich beleuchtet. Natürliche Phänomene wie Höhlen, Schluchten und dergleichen, die als äußerliche, kulturelle Projektionsflächen dienen – eine Teufelsschlucht existiert zum Beispiel in Deutschland, Chile, Kanada, Bhutan usw. und viele Höhlen in Bulgarien und Griechenland waren angeblich Orpheus’ Eingang in die Unterwelt —, riefen in mir immer nur ein vorübergehendes Interesse als Landschaftsbild hervor.  Da ich kein Geologe bin, sind Löcher in der Erde für mich nur dann interessant, wenn jemand jetzt oder früher in ihnen lebt oder gelebt hat, wie in einigen Zenoten in Mexiko, die nicht nur als Wasservorrat einer kargen Region dienten, sondern auch eng an das rituelle Leben der Gesellschaft gebunden waren.

Nachdem wir in die Höhle hinuntergestiegen waren, zu einem unterirdischen Fluss, ein kühler, feuchter und angenehmer Kontrast zu draußen, fahren wir dieselbe Strecke nach Smolyan zurück und ohne Halten weiter nach Zlatograd, wo wir die Nacht verbringen werden. Zlatograd ist nur ein Viertel so groß wie Smolyan und stellt ebenfalls Textilien, anfänglich Wollstoffe, her. Heute sind seine Häuser die Hauptattraktion, die als privater „ethnografischer Komplex“ restauriert wurden. Mit 150 Betten in vielen verschiedenen traditionellen Häusern, einem Ethnografisches Museum (sprich: Volkshandwerk und Trachten) und einer Reihe von kleinen Handwerksstätten für Drechsler- und Metallarbeiten sowie Webereien ist es seltsam modern. Es ist schon auf dem besten Weg ein Teil der so genannten Vergangenheitsverwertungsindustrie zu werden, in der eine unökonomisch gewordene Vergangenheit in einer keimfreien, idealisierten und öffentlich dargestellten Form wieder belebt wird. Dann werden Produkte hergestellt, die entweder technologisch oder finanziell überholt sind, die dann als Souvenirs verkauft werden und daher auf einem anderen Markt konkurrieren. Handgemachte Holzlöffel als nostalgische Artikel.